Abba Isaak der Syrer
Rede 21
Was dem Menschen hilft, sich Gott zu nähern
in seinem Herzen 1
Ferner über die wahre Ursache, die ihm im Verborgenen
Hilfe bringt, sowie über das, was den Menschen zur Demut führt
1. Selig der Mensch, der um seine eigene Schwäche weiß, denn dieses Wissen wird für ihn Grundlage, Wurzel und Anfang alles Guten. In dem Moment nämlich, wo einer seine Schwäche erkennt und wirklich empfindet, entreißt er seine Seele der Schlaffheit, die ihre Erkenntnis verdunkelt, und erwirbt sich einen Schatz an Wachsamkeit.
Doch niemand vermag seine eigene Schwäche wahrzunehmen, wenn er nicht mit Gottes Erlaubnis ein wenig der Prüfung unterworfen wird durch Dinge, die entweder den Körper oder die Seele plagen. Erst dann nämlich, wenn er seiner Schwäche die Hilfe Gottes gegenüberstellt, erkennt er das Ausmaß der ersteren. Wenn er die Vielzahl seiner Bemühungen betrachtet, die Umsicht, die Enthaltsamkeit, die vorbeugenden Maßnahmen, die Einzäunung seiner Seele, mit welcher er dieselbe zu bewahren hoffte, und sieht, dass es ihm mißlungen ist, sodass sein Herz keine Ruhe mehr findet wegen all der Angst und Beklemmung, dann muß er begreifen und einsehen, dass diese Herzensangst die absolute Notwendigkeit der Hilfe eines anderen anzeigt und offenkundig macht. Durch die Angst, die es ergriffen hat und in ihm ringt, bezeugt das Herz inwendig, dass ihm etwas fehlt. So wird es zurechtgewiesen und kann nicht länger in Selbstvertrauen verharren. Denn die Hilfe Gottes ist es, wie geschrieben steht, die rettet (s. Ps 120,2; 59,13, 107,13 usw.).
1 Aus den 86 Asketischen Reden des hl. Isaak des Syrers (6./7. Jh.). Übersetzt vom Kloster des Hl. Johannes des Vorläufers Chania aus dem griechischen Text in EPE-Philokalia Bd. 8A', unter Berücksichtigung der engl. Ausgabe des Holy Transfiguration Monastery, The Ascetical Homilies of Saint Isaac the Syrian, Boston 1984, welche zurück- greift auf die handschriftliche Überlieferung in Griechisch und Syrisch, sowie der franz. Ausgabe von Archimandrit Placide Deseille, Saint Isaac le Syrien, Discours Ascétiques, Monastères Orthodoxes St Antoine et Solan 2006. Rede 21 der griechischen Druckausgabe entspricht Rede 8 der englischen Ausgabe und Rede 61 der russischen Ausgabe (Sergiev Posad 1911).
2. Wenn einer erkannt hat, dass ihm die göttliche Hilfe fehlt, betet er innig zu Gott, und je mehr er betet, desto demütiger wird das Herz, denn es ist unmöglich, dass einer, der bittet und fleht, nicht demütig wird. Und "ein zerbrochenes und gedemütigtes Herz wird Gott nicht verachten" (Ps 50,19). Solange sich das Herz nicht demütigt, kann es nicht aufhören, umherzuschweifen, denn erst die Demut sammelt das Herz. Wenn sich der Mensch demütigt, umhüllt ihn sogleich das göttliche Erbarmen, und dann spürt das Herz die Hilfe Gottes. Es spürt in sich eine Kraft, die ihm Zuversicht einflößt. Wenn der Mensch die göttliche Hilfe spürt, wenn er ihren Beistand wahrnimmt, wird er sogleich von Gottvertrauen erfüllt und begreift hieraus, dass das Gebet Zuflucht des Hilfesuchenden ist, Quelle der Rettung, ein Schatz von Zuversicht, rettender Hafen im Sturm, Licht in der Finsternis, Stütze der Schwachen, Schutz zur Zeit der Prüfungen, Beistand auf dem Höhepunkt der Krankheit, schützender Schild im Krieg, scharfer Pfeil gegen die Feinde. Kurz gesagt, die Vielzahl all dieser guten Dinge wird durch das Gebet erlangt.
3. Von da an schwelgt er im Gebet des Glaubens, sein Herz ist erfüllt von Zuversicht und verharrt nicht länger bei der vorherigen Blindheit und dem bloßen Reden des Mundes. Und indem er diese Dinge wahrnimmt, erwirbt er das Gebet im Herzen, wie einen Schatz. Und wegen der großen Freude, die ihm hieraus erwächst, verwandelt sich sein Gebet in Dankesrufe, gemäß dem Wort eines Mannes, der jedes Ding beim Namen genannt hat: "Gebet ist Freude, die Danksagung emporsendet."
² Damit ist jenes Gebet gemeint, das aus der Erkenntnis Gottes kommt, anders gesagt, das von Gott Selbst stammt. Denn hier betet der Mensch nicht mit Mühe und Anstrengung wie beim anderen Gebet, vor dem Empfinden dieser Gnade, sondern freudigen Herzens und ergriffen läßt er ununterbrochen Bewegungen der Dankbarkeit hervorströmen, mit unaussprechlichen Kniebeugungen.
Und aus der Überfülle der in ihm wirkenden Gotteserkenntnis, aus seiner Ergriffenheit und Verwunderung über die Gnade Gottes erhebt er plötzlich seine Stimme, um Ihn zu lobpreisen und zu verherrlichen, und so sendet er seinen Dank empor, die Zunge bewegt von seiner tiefen Verwunderung.
4. Wenn einer in Wahrheit und nicht bloß in der Einbildung diesen Punkt erreicht hat, wenn er in sich selbst viele Zeichen dieser Sache beobachtet und kraft seiner Erfahrung viele Aspekte derselben kennengelernt hat, so weiß er, dass das, was ich sage, dieser Wirklichkeit nicht widerspricht. So höre er denn von jetzt an auf, sich um die nichtigen Dinge zu kümmern, und verharre bei Gott durch das das ununterbrochene Gebet, in Furcht und Zittern darüber, dass er sonst die Fülle des Beistandes Gottes verlieren könnte.
5. Alle diese guten Dinge empfängt der Mensch aus der Erkenntnis seiner eigenen Schwäche. Denn durch sein inniges Flehen um die Hilfe Gottes nähert er sich Gott und verharrt im Gebet. Und je mehr er sich Gott nähert durch sein Anliegen, desto mehr nähert Sich ihm Gott durch Seine Gnadengaben, und seiner großen Demut wegen wird Er ihm die Gnade nicht vorenthalten, denn er ist wie die Witwe, die ohne Unterlaß zum Richter schreit, damit er ihr zum Recht verhelfe gegenüber dem Widersacher (s. Lk 18,3ff).
6. Wenn der erbarmende Gott Seine Gnadengaben zurückhält vor einem Menschen, so tut Er das eben deswegen, damit ihm dies zum Antrieb werde, um sich Ihm zu nähern, und damit er, von der Not gedrängt, in der Nähe Dessen bleibe, Der die Wohltaten spendet. Einige Bitten erfüllt Er sogleich, und damit meine ich jene, ohne deren Erfüllung keiner gerettet werden kann. Bei anderen aber wartet Er zu. In einigen Fällen wehrt Er die Flammenpfeile des Widersachers ab vom Menschen oder hält sie fern, in anderen erlaubt Er, dass er versucht wird, damit ihm diese Versuchung wie schon gesagt Antrieb sei, sich Gott zu nähern, und damit er ertüchtigt werde und Erfahrung gewinne aus den Versuchungen. Deshalb sagt die Heilige Schrift, dass "der Herr viele Heidenvölker verschonte, sodass sie nicht vernichtet wurden, und Er gab sie nicht in die Hände von Josua, dem Sohn des Nave, um durch sie die Söhne Israels zu züchtigen und damit die Stämme der Söhne Israels unterwiesen würden und das Kriegführen erlernten" (s. Rich 2,23-3,2).
7. Denn der Gerechte, dem die eigene Schwäche nicht bewusst ist, wandert auf des Messers Schneide und ist nie sicher vor einem Sturz, noch vor dem verderbenbringenden Löwen (s. 1 Petr 5,8), vor dem Dämon des Hochmuts, will ich sagen. Und wiederum, wer seine eigene Schwäche nicht kennt, dem mangelt es an Demut, und wem es an Demut mangelt, dem mangelt es auch an Vollkommenheit, und wem es an dieser mangelt, der ist ständig in Angst. Denn seine Stadt ist nicht auf eherne Säulen gegründet, noch auch auf ein Fundament, das nicht wankt, das heißt die Demut. Die Demut aber kann keiner anders erwerben, als durch deren eigene Weisen, und das sind jene, durch die das Herz zerbrochen und die Gedanken der Überheblichkeit vernichtet werden.
8. Deshalb findet der Widersacher in einem solchen Menschen oft leicht einen Ansatzpunkt, um ihn abzubringen vom rechten Weg. Denn ohne Demut kann das Werk des Menschen nicht zur Vollendung gebracht werden, und sein Freilassungsbrief ist nicht besiegelt worden mit dem Siegel des Heiligen Geistes, weshalb er immer noch Sklave ist, denn sein Werk ist nicht hinausgediehen über die Furcht. 3 Keiner kann sein Werk berichtigen ohne Demut, und keiner wird belehrt, es sei denn durch Versuchungen, und ohne diese Belehrung wird die Demut nicht erlangt.
9. Deshalb bringt der Herr über die Heiligen diverse Ursachen der Demütigung, Anlässe zur Zerknirschung des Herzens und zum innigen Gebet, damit diejenigen, die Ihn lieben, sich Ihm in Demut nähern. Und oftmals erschreckt Er sie durch die Leidenschaften der Natur, durch Ausrutscher in schändliche und unreine Gedanken, andere Male durch Spott und Hohn und Schläge seitens der Menschen, noch andere Male durch leibliche Krankheiten und Gebrechen, zuweilen durch Not und Mangel am Lebensnotwenigen, zuweilen durch die Pein quälender Angst, das Gefühl der Verlassenheit und offene Anfechtung durch den Teufel, zuweilen durch verschiedene andere erschreckende Dinge. All das geschieht, damit sie Gelegenheit erhalten, sich zu demütigen und damit sie nicht dem Schlummer der Nachlässigkeit anheimfallen, sei es in bezug auf Dinge, in denen ein geistiger Kämpfer schwach werden kann, sei es im Hinblick auf das künftige Gericht. So sind denn die Versuchungen und Prüfungen zwangsläufig von großem Nutzen für die Menschen.4
10. Damit will ich allerdings nicht sagen, dass sich der Mensch freiwillig schlaff machen lassen soll durch schändliche Gedanken, damit ihm das einen Anlaß verschaffe zur Demütigung, sooft er sich daran erinnert. Noch auch sage ich, dass er sich bemühen soll, sich anderen Versuchungen auszusetzen. Sondern ich sage, dass er im Tun des Guten zu jeder Zeit nüchtern sein und seine Seele behüten und bedenken soll, dass er geschaffen ist und daher leicht wandelbar. Denn jedes Geschöpf bedarf des Beistands von Gottes Macht, und wer des Beistands eines anderen bedarf, beweist damit seine natürliche Schwäche. Und jeder, der sich selbst als schwach erkennt, muß sich zwangsläufig demütigen, damit er seinem Mangel abhelfen kann durch Denjenigen, Der ihm geben kann, was ihm fehlt. Hätte der Mensch seine Schwäche von Anfang an erkannt und in Betracht gezogen, wäre er nicht nachlässig geworden, und wäre er nicht nachlässig geworden, wäre er nicht eingeschlummert und denen ausgeliefert worden, die ihn bedrängen, um ihn aufzuwecken.
³ Nach den Hl. Vätern, die ausgehen von der Hl. Schrift (s. Gal 4,7; 1 Joh 4,18 usw.), ist derjenige, der im Zustand der Furcht verharrt, noch im Stand des Sklaven. Erst wenn er von da fortschreitet zur Liebe, erlangt er die Sohnschaft.
4. Dies ist die Maxime der Wüstenväter: "Ohne Versuchungen und Prüfungen kann keiner gerettet werden" (Spruch des hl. Antonios, s. Das Große Gerontikon - Die Sprüche der Heiligen Wüstenväter, Thematische Sammlung, Nauen 2009, S. 235), die Abba Isaak in seinen Reden oftmals wiederholt.
11. Derjenige, der auf dem Wege Gottes wandert, muß Ihm danken für alles, was ihm widerfährt, und seine eigene Seele tadeln und beschimpfen. Er muß begreifen, dass nichts von alledem erlaubt würde vom Fürsorger, wenn nicht auf Grund irgendeiner Nachlässigkeit, damit er aufwache in seinem Denken, oder auf Grund seiner Aufgeblasenheit. Er soll deswegen nicht die Fassung verlieren, noch auch soll er die Kampfbahn verlassen oder sich selbst ohne Tadel lassen, damit das Übel nicht verdoppelt werde. Denn es gibt keine Ungerechtigkeit bei Gott, der Quelle aller Gerechtigkeit. Bewahre! Ihm gehört die Herrlichkeit in die Ewen. Amen.
http://www.prodromos-verlag.de/Isaak_SichGottNaehern.pdf
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